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Asmaan bohrte wie ein Messer in ihm: Asmaan am Morgen, wie er die natürlichen Körperfunktionen immer besser beherrscht und dies vor einem applaudierenden - wenn auch schamlos parteilichen - Publikum aus zwei Personen zur Schau stellt. Asmaan in seinen Tagesrollen als Motorradfahrer, Zeltbewohner, Sandkastenkaiser, guter Esser, schlechter Esser, Gesangsstar, Star mit Wutausbrüchen, Feuerwehrmann, Raumfahrer, Batman. Asmaan nach dem Dinner, während der einen, ihm erlaubten Videostunde, beim Betrachten endloser Wiederholungen von Disneyfilmen. Sehr beliebt war Robin Hood, mit seinem absurden Notting Ham, mit einem singenden Country-and-Western-Hahn, billigen Parodien auf Baloo und Kaa aus dem Dschungelbuch, dem unkaschierten amerikanischen Akzent im gesamten Sherwood Forest und dem immer wieder ausgestoßenen alt-englischen Disney-Ruf »Jodelahiti!«. Toy Story dagegen war tabu. »Da ist ein gäslicher Junge dabei!« Gäslich war gräßlich, und der Junge machte ihm angst, weil er seine Spielsachen schlecht behandelte. Dieser Verrat an der Liebe erschreckte Asmaan. Er identifizierte sich mit den Spielsachen, nicht mit ihrem Besitzer. Die Spielsachen waren wie die Kinder des Jungen, und daß er sie schlecht behandelte, war in Asmaans dreijährigem Moral-Universum ein so schlimmes Verbrechen, daß man gar nicht daran denken mochte. (Genauso wie der Tod. In Asmaans Version von Peter Pan konnte Captain Hook jedesmal dem Krokodil entwischen.) Und nach dem Video-Asmaan kam dann der Abend-Asmaan, Asmaan im Bad, wie er sich von Eleanor die Zähne putzen ließ und wie er vorsorglich verkündete: »Heute waschen wir nicht die Haare.« Asmaan, schließlich, wie er, die Hand des Vaters haltend, ins Bett ging und einschlief.

Der Junge hatte sich angewöhnt, Solanka ohne Rücksicht auf den Zeitunterschied von vier Stunden anzurufen. Eleanor hatte die New Yorker Nummer ins Direktwahlsystem des Küchentelefons an der Willow Road eingespeichert; Asmaan brauchte nur noch einen einzigen Knopf zu drücken. Hallo, Daddy, kam seine transatlantische Stimme (der erste Anruf war um fünf Uhr morgens erfolgt): Ich war im Pa’t, Daddy, und da war’s schön. Park, Asmaan, versuchte der schlaftrunkene Solanka seinen Sohn zu belehren. Sag mal Park. Pa’t. Wo bist du, Daddy, bist du zu Hause? Kommst du nicht wieder zu uns? Ich hätte dich in den Wagen setzen sollen, Daddy, ich hätte dich zu den Schaufeln mitnehmen sollen. Schaukeln. Sag Schaukeln. Ich hätte dich zu den Schaukeln mitnehmen sollen, Daddy. Morgen hat mich immer viel höher geschubst. B’ingst du mir ein ssönes Pätchen mit, Daddy? Sag bringen, Asmaan. Sag schönes. Du kannst es doch. B-ringst du mir ein sch-schönes Päckchen mit, Daddy? Was ist da d’in? Drin, Asmaan. Sag drin. D-rin. Wird es mir gefallen? Daddy, du gehst nie mehr weg. Ich lasse dich nicht weg. Im Pa’t hab ich ein Eisteem gegessen. Morgen hat ihn mir getauft. Das hat gut geschmeckt. Sag Eiskrem, Asmaan. Eiskrem. Eleanor kam an den Apparat. »Tut mir leid, er ist runtergekommen und hat ganz allein auf den Knopf gedrückt. Leider bin ich nicht aufgewacht.« Ach was, macht nichts, antwortete Solanka, woraufhin eine lange Pause folgte.

Dann sagte Eleanor unsicher: »Malik, ich weiß einfach nicht, was los ist. Ich breche zusammen. Können wir nicht, wenn du nicht nach London kommen willst, könnte ich einen Flieger, ich könnte Asmaan bei seiner Oma lassen, und wir könnten uns zusammensetzen und versuchen, dieses Problem zu lösen, was immer es ist, o Gott, ich weiß nicht mal, was es ist, könnten wir es nicht zu lösen versuchen? Oder haßt du mich jetzt, verabscheust du mich auf einmal aus irgendeinem Grund? Gibt es eine andere? Muß es doch wohl, oder? Wer ist es? Um Gottes willen, sag es mir, wenigstens wäre das logisch, und dann könnte ich verdammt noch mal richtig wütend auf dich sein, statt ganz langsam den Verstand zu verlieren.«

Tatsächlich fehlte ihrer Stimme noch immer jeder Anflug von echtem Zorn. Aber ich habe sie ohne ein Wort verlassen, dachte Solanka: Früher oder später muß sich ihr Kummer doch in Wut verwandeln. Vielleicht würde sie es ihrem Anwalt überlassen, ihrer Wut für sie Ausdruck zu verleihen, die kalte Wut des Gesetzes gegen ihn loslassen. Aber er vermochte in ihr keine zweite Bronislawa Rhinehart zu sehen. Rachsucht lag einfach nicht in ihrer Natur. Aber daß da so wenig Zorn war: das war unmenschlich, ja, sogar ein bißchen beängstigend. Oder aber der Beweis für das, was alle dachten und was Morgen und später Lin Franz in Worte gefaßt hatte: daß sie der bessere Mensch von ihnen beiden war, zu gut für ihn, und sobald sie sich von ihrem Schmerz erholt hatte, würde es ihr ohne ihn besser gehen. Wobei nichts davon ihr jetzt ein Trost sein würde, weder ihr noch dem Kind, in dessen Arme zurückzukehren er nicht wagte - der Sicherheit des Jungen wegen. Denn er wußte, daß er die Furien noch nicht abgeschüttelt hatte. Tief in seinem Inneren siedete und brodelte noch immer ein zusammenhangloser, doch kontinuierlicher Zorn und drohte, ohne Vorwarnung in einem mächtigen Vulkanausbruch zutage zu treten; als wäre er sein eigener Herr, als wäre er selbst nur das Gefäß, der Wirt, und sie, die Wut, wäre das fühlende, beherrschende Wesen. Trotz aller scheinbar nekromantischen Fortschritte der Wissenschaft war dies eine prosaische Zeit, in der behauptet wurde, man könne alles mit dem Verstand erklären; und Professor Solanka, der Malik Solanka, der sich jüngst des Unerklärlichen in sich selbst bewußt geworden war, hatte stets fest auf der Seite der prosaischen Partei gestanden, der Partei der Vernunft und Wissenschaft in ihrer ursprünglichen und weitesten Bedeutung: scientia, das Wissen. Doch selbst in diesen mikroskopisch genau beobachteten und endlos erläuterten Zeiten entzog sich das, was in ihm kochte, jeglicher Erklärung. Da ist etwas in uns, mußte er zugeben, das kapriziös ist und für das die Sprache der Erklärungen keinen Ausdruck hat. Wir bestehen aus Schatten und aus Licht, aus Hitze und aus Staub. Der Naturalismus, die Philosophie des Sichtbaren, kann uns nicht für sich behalten, denn wir gehen darüber hinaus. Wir fürchten dies in uns, unser grenzüberschreitendes, regelnbrechendes, formwechselndes, transgressives, sündhaftes Schatten-Ich, den wahren Geist in unserer Maschine. Weder im jenseitigen Leben noch in irgendeiner unwahrscheinlichen, unsterblichen Sphäre, sondern hier auf Erden entrinnt der Geist den Fesseln dessen, was wir unseres Wissens sind. Er könnte sich, wutentbrannt ob seiner Gefangenschaft, im Zorn erheben und die Verstandeswelt in Trümmer legen.

Was auf ihn zutraf, überlegte er plötzlich wieder einmal, könnte bis zu einem gewissen Grad auch auf alle anderen zutreffen. Die ganze Welt hing an einer kurzen Lunte. In jedem Körper drehte sich ein Messer, für jeden Rücken gab es eine Geißel. Wir wurden alle schwer provoziert. Überall hörte man Explosionen. Das menschliche Leben spielte sich jetzt in dem Moment vor der Wut ab, wenn der Zorn wuchs, oder in dem Moment während - die Stunde der Wut, die Zeit der Freilassung des Untiers - oder in den Ruinen nach einer großen Gewalttat, wenn die Wut abebbte und sich das Chaos beruhigte, bis wiederum die Flut einsetzte. Krater waren - in den Städten, den Wüsten, den Nationen, in den Herzen - etwas Alltägliches geworden. Die Menschen fletschten die Zähne und kauerten sich in die Trümmer ihrer eigenen Missetaten.

Trotz (oder häufig wegen) Mila Milos Dienstleistungen mußte Professor Solanka in den vielen schlaflosen Nächten seine brodelnden Gedanken beruhigen, indem er stundenlang, sogar im Regen, durch die Straßen der Stadt wanderte. Ein paar Häuserblocks weiter wurde die Amsterdam Avenue aufgerissen, der Bürgersteig wie auch die Fahrbahn selbst (an manchen Tagen hatte man das Gefühl, die ganze Stadt werde aufgerissen), und als er eines Nachts durch einen mittelschweren Wolkenbruch an einem schlecht gesicherten Loch vorbeikam, stieß er sich den großen Zeh an einem Hindernis und brach in eine drei Minuten lange Tirade von Flüchen aus. Als er dann schwieg, hörte er eine bewundernde Stimme, die unter einer Ölzeugplane in einem Hauseingang hervorkam: »Mann, jetzt hab ich aber wirklich ’n paar neue Wörter gelernt.« Solanka bückte sich, um zu sehen, woran er sich den Fuß gestoßen hatte, und da lag auf dem Bürgersteig ein herausgebrochener Betonpflasterstein; woraufhin er in einen ungeschickten Hinketrab fiel und vor dem Betonbrocken floh wie ein Täter, der den Schauplatz seines Verbrechens verläßt.

Seit die Ermittlungen im Fall der drei Morde an Töchtern der guten Gesellschaft sich auf die drei reichen jungen Männer konzentrierten, empfand er ein Gefühl der Erleichterung, doch im Grunde seines Herzens hatte er sich noch nicht ganz freigesprochen. Die Berichte über den Stand der Ermittlungen verfolgte er sorgfältig. Es hatte noch immer keine Verhaftungen und Geständnisse gegeben, und die Nachrichtenmedien wurden ungeduldig; die Möglichkeit eines Serienkillers aus der Oberschicht war spannend und verlockend, und daß die New Yorker Polizei den Fall nicht lösen konnte, war infolgedessen um so frustrierender. Klagt diese hochnäsigen Taugenichtse des Mordes an! Einer von ihnen muß zusammenbrechen! Durch diese spekulativen Kommentare, auf die man immer wieder stieß, wurde eine unappetitliche Lynch-Mob-Atmosphäre geschaffen. Solankas Aufmerksamkeit richtete sich auf die einzige mögliche Spur. Mr. Panamahut war in der Rollenbesetzung dieses ungelösten Kriminalromans durch eine noch seltsamere Gruppe von Personen abgelöst worden. In der Nähe aller drei Mordschauplätze waren Personen in Disney-Kostümen gesichtet worden: bei Lauren Kleins Leiche ein Goofy, bei Belinda Booken Candells Leiche ein Buzz Lightyear, und wo Saskia Schuyler lag, hatte ein Passant einen Rotschopf in Lincolngrün entdeckt: Robin Hood persönlich, Quälgeist des bösen, alten Sheriffs von Notting Ham und nun also Flüchtling vor den Sheriffs von Manhattan. Jodelahiti! Die Detectives räumten ein, daß es unmöglich sei, mit einiger Sicherheit eine gewisse Verbindung zwischen den drei Beobachtungen herzustellen, aber so ein Zufall sei zweifellos merkwürdig - bis Halloween waren es noch viele Monate -, und sie würden dies keinesfalls aus den Augen verlieren.

In den Köpfen der Kinder, dachte Solanka, sind die Kreaturen der Phantasiewelt - Personen aus Büchern, Videos oder Songs - tatsächlich weit realer als die meisten lebenden Menschen, Eltern ausgenommen. Wenn wir heranwachsen, verlegt sich die Gewichtung, und die Fiktion wird in eine separate Realität verwiesen, eine Welt für sich, von der wir meinen, daß sie dort hingehört. Hier jedoch war der makabre Beweis dafür, daß die Fiktion diese angeblich unüberwindliche Grenze überqueren kann. Asmaans Welt - Disney World - überschritt sie in New York und mordete die jungen Frauen der Stadt. Und ein oder mehrere sehr böse Jungen waren auch irgendwo in diesem Video versteckt.

Wenigstens hatte es eine Zeitlang keine Betonkillermorde mehr gegeben. Außerdem hatte Solanka, dank Mila, weit weniger getrunken, und infolgedessen waren auch keine Amnesieanfälle mehr aufgetreten: Er wachte nicht mehr in seiner Straßenkleidung und mit schrecklichen, nicht zu beantwortenden Fragen im schmerzenden Kopf auf. Es gab sogar Momente, da war er, wenn er in Milas Bann geriet, zum erstenmal seit Monaten ganz nahe daran gewesen, glücklich zu sein. Und dennoch dräuten noch immer die dunklen Göttinnen über ihm und träufelten ihm ihre Bosheit ins Herz. Wenn Mila bei ihm war, in diesem holzgetäfelten Raum, in dem sie sich, sogar wenn Gewitter den Himmel verdunkelten, nicht mehr die Mühe machten, das Licht anzuknipsen, hielt sie ihn im Zauberkreis ihres Charmes; aber sobald sie fort war, machten sich in seinem Kopf wieder die Geräusche bemerkbar. Das Gemurmel, das Schlagen schwarzer Schwingen. Nach seinem ersten frühmorgendlichen Telefongespräch mit Asmaan und Eleanor bohrte sich ein Messer in ihn, wandte sich das Gemurmel zum erstenmal gegen Mila, seinen Engel der Barmherzigkeit, seine lebende Puppe.

Ihr Gesicht lag nun im Halbschatten, ihre scharfen Züge schmiegten sich behaglich an sein halb geöffnetes Hemd, das kurze rotgoldene Stachelhaar streifte die Unterseite seines Kinns. Die Wiederholungen alter Fernsehfilme liefen längst nicht mehr, ein Vorwand, der seinen Zweck erfüllt hatte. In der letzten Zeit, an jenen trägen, dunklen Nachmittagen, sprachen sie kaum noch, und wenn sie es taten, dann nicht mehr über Philosophie. Manchmal glitt ihre Zunge sekundenlang über seine Brust. Jeder Mensch braucht eine Puppe zum Spielen, flüsterte sie. Professor, Sie armer, zorniger Mann, es ist so lange her. Still, es hat keine Eile, nehmen Sie sich Zeit, ich gehe nicht fort, niemand wird uns stören, ich bin für Sie da. Lassen Sie ihn los. Sie brauchen ihn nicht mehr, diesen furchtbaren Zorn. Sie brauchen sich nur daran zu erinnern, wie man spielt. Da waren ihre langen Finger mit den blutroten Nägeln, die sich den Weg, jeden Tag um eine Winzigkeit, tiefer in sein Hemd hinein suchten.

Ihre Erinnerung war außergewöhnlich stark ausgeprägt. Jedesmal, wenn sie ihn besuchte, vermochte sie genau die Position auf seinem kissenbedeckten Schoß einzunehmen, die sie am Ende ihres letzten Besuchs erreicht hatte. Die Plazierung ihres Kopfes und ihrer Hände, das Ausmaß, in dem sie sich zusammenrollte, das exakte Gewicht, mit dem sie sich an ihn schmiegte: ihre hochgradig präzise Erinnerung und ihr infinitesimales Korrigieren dieser Variablen waren an sich schon stark erregende sexuelle Handlungen. Denn allmählich fielen die Schleier von ihrem Spiel, wie Mila Professor Solanka bei jeder (mit jedem Tag eindeutigeren) Berührung bewies. Die Wirkung von Milas immer intensiveren Zärtlichkeiten auf Professor Solanka war elektrisierend, in seinem Alter und in seiner Lebenslage hatte er nicht gedacht, jemals wieder eine solche Wohltat zu empfangen. Jawohl, sie hatte ihm den Kopf verdreht, hatte schon damit begonnen, während sie noch vorgab, nichts dergleichen im Sinn zu haben, und nun war er tief in ihr gesponnenes Netz verstrickt. Die Webspyderkönigin, die Herrin der ganzen Webspyderbande, hielt ihn in ihrem Netz gefangen.

Es gab noch eine weitere Veränderung. Genau wie er den Namen einer Puppe ausgesprochen hatte, versehentlich oder unter dem Druck eines ihm kaum bewußten Begehrens, so entschlüpfte auch ihr eines Nachmittags ein verbotenes Wort. Und sofort war dieses mit Läden verschlossene, verdunkelte Wohnzimmer wie durch Zauberhand in grelles, bloßstellendes Licht getaucht, und Professor Malik Solanka kannte Mila Milos Hintergrundgeschichte. Es waren immer mein Dad und ich, hatte sie selbst gesagt, immer er und ich gegen den Rest der Welt. Da war es, mit ihren eigenen, unverhohlenen Worten. Sie hatte es direkt vor Solankas Füße gelegt, und er war zu blind (oder nicht willens?) gewesen, um zu sehen, was sie ihm so offen und schamlos zeigte. Doch als Solanka sie nach ihrem Versprechen ansah - der, wie ihm immer klarer wurde, gar kein Versprecher gewesen war, denn sie war eine Frau mit einer ungeheuer starken Selbstbeherrschung, der so ein Lapsus niemals passiert wäre -, verrieten diese scharfen und irgendwie kryptischen Züge, die schrägstehenden Augen, dieses Gesicht, das am verschlossensten war, wenn es am offensten wirkte, dieses schlaue, kleine, heimliche Lächeln endlich ihr Geheimnis.

Papi, hatte sie gesagt. Dieses verräterische Diminutiv, dieses befrachtete Wort der Liebe, geflüstert ins Ohr eines Toten, hatte als Sesam-öffne-dich zu ihrer finsteren Kindheitshöhle gewirkt. Da saßen der verwitwete Dichter und sein frühreifes Kind. Da lag ein Kissen auf seinem Schoß und sie darauf, Jahr um Jahr, sie rollte sich zusammen, streckte sich, schmiegte sich an ihn, küßte seine Schamestränen davon. Dies war das Herz, das Herz seiner Tochter, die versuchte, den Vater für den Verlust der Frau zu entschädigen, die er liebte, zweifellos teilweise auch für ihren eigenen Verlust, indem sie sich an den Elternteil klammerte, der ihr geblieben war, aber auch um diese Frau in der Zuneigung dieses Mannes zu ersetzen, den verbotenen, leeren Platz der toten Mutter besser auszufüllen, als er von ihr selbst ausgefüllt worden war, denn er sollte sie brauchen, sollte die lebende Mila mehr brauchen, als er je seine Frau gebraucht hatte; sie würde ihm neue Tiefen des Brauchens zeigen, bis er sie mehr begehrte, als er sich jemals hätte vorstellen können, die Berührung einer Frau zu begehren. Dieser Vater - nach seinen eigenen Erfahrungen mit Milas Macht war Solanka absolut sicher, zu wissen, was geschehen war - wurde von seiner Tochter ganz langsam verführt, Millimeter um Millimeter auf unbekanntes Territorium gelockt, auf sein niemals entdecktes Verbrechen zu. Hier war der große Schriftsteller, l’ecrivain nobelisable, das Gewissen seines Volkes, und gestattete diesen entsetzlich kundigen kleinen Händen, sich an die Knöpfe seines Hemdes heranzutasten, und erlaubte irgendwann einmal das Unerlaubbare, überschritt die Grenze, von der es keine Rückkehr gab, und begann, unter Qualen, aber auch begierig mitzumachen. So wurde ein religiöser Mann auf ewig zu einer Todsünde verführt, von seinem Begehren gezwungen, seinen Gott zu verleugnen und den Pakt mit dem Teufel zu unterzeichnen, während das heranwachsende Mädchen, sein Dämonenkind, der Kobold im Herzen der Blüte, die beschwichtigenden, glaubensmordenden Worte flüsterte, die ihn hinabzogen: Das hier geschieht nicht, solange wir nicht sagen, daß es geschieht, und wir sagen nicht, daß es geschieht, nicht wahr, Papi, also geschieht es nicht. Und weil nichts geschah, war auch nichts unrecht. Der tote Dichter war in jene Welt der Phantasie eingetreten, wo alles immer sicher ist, wo das Krokodil Captain Hook niemals erwischt und wo ein kleiner Junge niemals seiner Spielsachen müde wird. So entdeckte Malik Solanka das wahre Ich seiner Geliebten und sagte: »Dies ist ein Echo, nicht wahr, Mila, eine Reprise. Du hast dieses Lied schon einmal gesungen.« Aber sofort korrigierte er sich innerlich selbst. Nein, nein, hör auf, dir selbst zu schmeicheln. Nicht nur einmal. Du bist bei weitem nicht der erste.

Still, sagte sie und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Still, Papi, nicht. Es ist damals nichts geschehen, und es geschieht auch jetzt wieder nichts. Daß sie den belastenden Kosenamen zum zweitenmal aussprach, verlieh ihm eine neue, flehende Bedeutung. Sie brauchte das, sie brauchte seine Zustimmung. Die Spinne war in ihrem eigenen nekrophilen Netz gefangen, auf Männer wie Solanka angewiesen, um ihren Geliebten langsam, ganz langsam von den Toten zu erwecken. Dank dem Gott, der nicht existiert, daß ich keine Töchter habe, dachte Malik Solanka. Dann packte ihn das Elend und drohte ihn zu ersticken. Keine Tochter, aber ich habe auch meinen Sohn verloren. Elián, die Ikone, ist mit seinem Papa nach Cärdenas auf Kuba zurückgekehrt, aber ich kann nicht zu meinem Jungen nach Hause gehen. Milas Lippen lagen jetzt an seinem Hals, strichen über seinen Adamsapfel, und er spürte ein leichtes Saugen. Der Schmerz ließ nach; und auch etwas anderes wurde von ihm genommen. Seine Worte wurden von ihm genommen. Sie sog sie aus ihm heraus und verschluckte sie, und er würde sie nie wieder aussprechen können, die Worte, welche die Sache beschrieben, die nicht geschah, welche die Spinnen-Hexe in ihrer schwarzen, gebieterischen Art niemals erlauben würde.

Und was, spekulierte Solanka ins Blaue hinein, wenn sie sich von seiner Wut nährte? Was, wenn sie am hungrigsten nach dem war, was er am meisten fürchtete, nach dem Kobold des Zorns in ihm? Denn sie war ebenfalls von Wut getrieben, das wußte er, von der wilden, tyrannischen Wut ihrer verborgenen Sehnsucht. In diesem Moment der Offenbarung hätte Solanka sofort glauben können, daß dieses schöne, verfluchte Mädchen, dessen Gewicht sich mit so lasziver Trägheit auf seinem Schoß bewegte, dessen Fingerspitzen seine Brusthaare so hauchzart berührten wie eine sommerliche Brise und dessen Lippen sanft über seine Kehle strichen, tatsächlich die Inkarnation der Wut war, eine der drei Furienschwestern, dieser Geißeln der Menschheit. Wut war ihre göttliche Natur, und schäumender Zorn ihre Lieblingsnahrung. Er hätte sich einreden können, hinter ihrem leisen Flüstern, unter ihrem unfehlbar gemäßigten Ton die Erinnyen kreischen zu hören.

Eine weitere Seite ihrer Vorgeschichte offenbarte sich ihm. Hier war der Dichter Milo mit seinem schwachen Herzen. Dieser begabte, getriebene Mann hatte jeden ärztlichen Rat in den Wind geschlagen und fuhr mit einer fast absurden Maßlosigkeit fort, zu trinken, zu rauchen und Frauen zu lieben. Seine Tochter hatte eine Erklärung Conradinischer Erhabenheit für sein Verhalten geliefert: Man muß das Leben leben, bis es nicht mehr gelebt werden kann. Doch als Solanka die Augen aufgingen, sah er ein anderes Bild des Dichters, das Porträt eines Künstlers, der sich vor einer schweren Sünde in den Exzeß flüchtete, vor dem, was er tagtäglich als den Tod seiner Seele erlebt haben mußte, wofür sie in alle Ewigkeit in den qualvollsten Kreis der Hölle verdammt wurde. Dann kam jene letzte Reise, Papi Milos selbstmörderische Flucht zu seinem mörderischen Namensvetter. Auch das verriet Malik Solanka jetzt etwas anderes als das von Mila Dargestellte. Auf der Flucht vor einem Übel war Milo ausgezogen, um sich dem zu stellen, was er für die geringere Gefahr hielt. Vor dieser zerstörerischen Furie, seiner Tochter, fliehend, lief er auf seinen vollen, ungekürzten Namen zu, auf sich selbst. Mila, dachte Solanka, du hast deinen durchgedrehten Vater vermutlich in den Tod getrieben. Und was magst du jetzt für mich vorgesehen haben?

Darauf wußte er nur eine erschreckende Antwort. Mindestens ein Schleier hing noch zwischen ihnen, nicht über ihrer Story, sondern über seiner. Er hatte von der ersten Minute dieser verbotenen Liaison an gewußt, daß er mit dem Feuer spielte, daß alles, was er tief in sich selbst vergraben hatte, aufgerührt, daß die Siegel eins nach dem anderen gebrochen wurden und daß die Vergangenheit, die ihn schon einmal fast vernichtet hatte, jetzt vielleicht eine zweite Chance bekam, ihr Werk zu vollenden. Zwischen dieser neuen, unerwarteten Story und jener alten, unterdrückten Geschichte echoten unartikulierte Fragen. Die der Verwandlung in eine Puppe. Des Sichgehenlassens. Keine andere Wahl zu haben. Der Versklavung der Kindheit. Des Verlangens: diese ist die unerbittlichste. Nach der Macht der Ärzte. Nach der Ohnmacht des Kindes. Nach der Unschuld der Kinder. Nach der Schuld des Kindes, seinem Fehler, seinem schlimmsten Fehler. Vor allem aber die Frage nach den Sätzen, die niemals vervollständigt werden dürfen, denn sie zu vervollständigen, würde bedeuten, der Wut die Zügel zu lassen, und der Krater dieser Explosion würde alles ringsum verschlingen.

O Schwäche, Schwäche! Er konnte sie noch immer nicht zurückweisen. Selbst nachdem er ihr wahres Wesen erkannt hatte, selbst nachdem er begriffen hatte, wozu sie fähig war, und die Gefahr ahnte, in der er sich möglicherweise befand, konnte er sie nicht fortschicken. Ein Sterblicher, der eine Göttin liebt, ist verdammt, doch wenn er einmal gewählt hat, kann er seinem Schicksal nicht entgehen. Sie fuhr fort, ihn zu besuchen, aufgepuppt, wie er es gern hatte, und jeden Tag gab es Fortschritte. Das Polareis begann zu schmelzen. Bald würde der Meeresspiegel zu hoch steigen, und sie würde sicherlich untergehen.

Wenn er jetzt das Haus verließ, kam er sich vor wie ein uralter Schläfer, der erwachte. Draußen, in Amerika, war alles zu grell, zu laut, zu fremd. In der Stadt war eine Räude von schmerzhaft idiotischen Wortspielen mit Kühen ausgebrochen. Im Lincoln Center stieß Solanka auf Moozart und Moodame Butterfly. Vor dem Beacon Theatre hatte ein Trio gehörnter und euterbehafteter Diven Posten bezogen: Whitney Mooston, Mooriah Cowrey und Bette Midier (die Bovine Miss M). Verunsichert durch diesen Befall mit paronomastischen Rindviechern, fühlte sich Professor Solanka plötzlich wie ein Besucher aus Lilliput-Blefuscu, vom Mond oder, rundheraus gesagt, aus London. Ebenso fremd waren ihm die Briefmarken, die monatlichen, statt vierteljährlichen Gas-, Strom- und Telefonrechnungen, die ungewohnten Schokoladenmarken in den Geschäften (Twinkies, Ho-hos, Ring Pops), die Wörter candy und store für Schokolade und Geschäft, die bewaffneten Polizisten auf der Straße, die anonymen Gesichter in den Zeitschriften, Gesichter, die alle Amerikaner irgendwie sofort erkannten, die unverständlichen Texte beliebter Songs, die amerikanische Ohren offenbar mühelos verstehen konnten, die endbetonte Aussprache von Namen wie Farrar, Harrell, Candell, das breit gedehnte e, das aus expression axpression, aus I’ll get the check I’ll gat the chack machte; kurz gesagt, das reine Ausmaß seiner Unkenntnis des allumfassenden Durcheinanders des gewöhnlichen amerikanischen Lebens. Braingirls Memoiren füllten die Schaufenster der Buchhandlungen hier genauso wie in England, aber das machte ihm keine Freude. Die erfolgreichen Schriftsteller der Gegenwart waren ihm unbekannt. Eggers, Pilcher: sie klangen, als gehörten sie in die Speisekarte eines Restaurants statt auf eine Bestsellerliste.

Wenn Professor Solanka nach Hause kam, sah er Eddie Ford häufig allein auf der Vortreppe des Nachbarhauses sitzen - die Webspyders waren offenbar mit ihren Netzen beschäftigt -, und in dem gebremsten Feuer des trägen Blicks dieses blonden Centurion glaubte Malik Solanka das verspätete Aufleuchten von Mißtrauen zu entdecken. Es wurden jedoch keine Worte zwischen ihnen gewechselt. Sie nickten einander flüchtig zu und ließen es dabei bewenden. Dann betrat Malik seine getäfelte Zuflucht und wartete auf die Ankunft seiner Göttin. Er nahm seinen Platz im großen Lederarmsessel ein, der zu seinem Lieblingsmöbel geworden war, und legte sich das rote Samtkissen auf den Schoß, das er bisher noch immer benutzt hatte, um das zu schützen, was von seiner schwer angeschlagenen Sittsamkeit noch übriggeblieben war. Er schloß die Augen und lauschte dem Ticken der antiken Reiseuhr auf dem Kaminsims. Und irgendwann kam dann auch Mila lautlos herein - er hatte ihr einen Satz Schlüssel gegeben -, und alles, was getan werden mußte, was ihren Worten nach niemals getan wurde, wurde schweigend getan.

In diesem verzauberten Raum herrschte während Milas Besuch eine fast vollkommene Stille. Sie murmelten und flüsterten höchstens, aber mehr nicht. In der letzten Viertelstunde, bevor sie ging, nachdem sie energisch von seinem Schoß gesprungen war und sich das Kleid glattgestrichen hatte, um für sie beide ein Glas Preiselbeersaft oder eine Tasse Tee zu holen, und während sie sich auf die Außenwelt vorbereitete, durfte Solanka ihr, falls er das wollte, seine Hypothesen über das Land darlegen, dessen Kodizes er zu entschlüsseln versuchte.

Zum Beispiel Professor Solankas bisher noch unveröffentlichte Theorie über die unterschiedliche Einstellung zu oralem Sex in den Vereinigten Staaten und England - diese Arie wurde ausgelöst von dem törichten Entschluß des Präsidenten, sich abermals für etwas zu entschuldigen, das doch, wie er von Anfang an energisch hätte erklären müssen, niemanden etwas anging. Das Ganze traf auf die mitfühlende Aufmerksamkeit der jungen Frau, die sich auf seinen Schoß kuschelte. »In England«, erklärte er ihr in strengem Ton, »wird die heterosexuelle Fellatio meist erst angeboten oder gefordert, wenn es bereits zu einem Geschlechtsverkehr gekommen ist, und zuweilen nicht einmal dann. Sie wird als Zeichen tiefster Intimität empfunden. Und als sexuelle Belohnung für anständiges Verhalten. Sie wird selten gemacht. Während bei euch in Amerika, wo knutschende Teenager auf der Rückbank der zur Ikone erhobenen Automobile zur festen Tradition geworden sind, das Blasen, um den gängigen Ausdruck zu benutzen, die übliche Möglichkeit für junge Mädchen ist, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren und ihre Sweethearts trotzdem zu befriedigen.

Kurz gesagt, eine akzeptable Alternative zum Ficken. So kam es, daß Clinton, wenn er beteuert, er habe niemals Sex gehabt mit Moonica, der Bovinen Ms. L., in England für einen schamlosen Lügner gehalten wird, während das gesamte Teenage- (und ein großer Teil des prä- und post-teen) Amerika begreift, daß er die Wahrheit sagt, so wie der Begriff in den Vereinigten Staaten kulturell definiert wird. Oraler Sex ist genaugenommen kein Sex. Er ist das, was es den jungen Mädchen vermutlich ermöglicht, nach Hause zu kommen, die Hand aufs Herz zu legen und ihren Eltern - verdammt, vermutlich es dir ermöglicht hat, deinem Vater zu versichern -, daß sie es nicht getan haben. Also hat Slick Willy, Billy the Clint, einfach wiederholt, was jeder lebensfrohe amerikanische Teenager gesagt hätte. In der Entwicklung zurückgeblieben? Okay, vermutlich, aber deswegen ist es nicht zur Amtsenthebung gekommen.« »Ich verstehe.« Mila Milo nickte, als er fertig war, und kam zu ihm zurück, um in einer unerwarteten und überwältigenden Eskalation ihrer Spätnachmittagsroutine das rote Samtkissen von seinem hilflosen Schoß zu nehmen.

An jenem Abend wurde, von der flüsternden Mila beflügelt, seine alte Kunstfertigkeit neu belebt. Es steckt so vieles in dir und wartet, hatte sie gesagt. Ich kann es spüren, du platzt fast davon. Hier, hier. Gebrauche sie für deine Arbeit, Papi. Die furia. Okay? Mach traurige Puppen, wenn du traurig bist, zornige Puppen, wenn du zornig bist. Professor Solankas neue Aso-Puppen. Einen ganzen Stamm von solchen Puppen brauchen wir. Puppen, die etwas aussagen. Du kannst es. Ich weiß, daß du es kannst, weil du Braingirl geschaffen hast. Mach mir Puppen, die aus ihrer Nachbarschaft kommen - von diesem wilden Ort in deinem Herzen. Dem Ort, der nicht ein kleiner Kerl mittleren Alters unter einem Haufen alter Kleider ist. Von diesem Ort. Dem Ort für mich. Zeig’s mir, Papi. Mach, daß ich sie vergesse! Mach erwachsene Puppen, über achtzehn. Ich bin kein Kind mehr, oder? Mach mir Puppen, mit denen ich jetzt spielen möchte.

Endlich begriff er, was Mila für ihre Webspyders tat, außer sie modischer anzuziehen, als sie es selbst vermochten. Früher oder später wurde das Etikett Muse nahezu allen schönen Frauen angeheftet, die mit begabten Männern gesehen wurden, und kein fächerschwingender Modezar mit einem Hauch Selbstachtung würde sich je ohne eine solche blicken lassen, aber die meisten dieser Frauen waren mehr Amüsement denn Muse. Die wahre Muse war ein unbezahlbarer Schatz, und Mila konnte, wie Solanka entdeckte, wirklich inspirierend sein. Nur wenige Augenblicke nach ihrem tatkräftigen Drängen begannen Solankas Ideen, so lange gelähmt und eingedämmt, wieder zu sprühen und zu fließen. Er ging einkaufen und kam mit Pastellfarben, Papier, Modelliermasse, Holz und Messern zurück. Jetzt würden seine Tage ausgefüllt sein, und die meisten seiner Nächte ebenfalls. Wenn er jetzt voll angekleidet erwachte, würde nicht der Straßengeruch in seinen Kleidern hängen, und sein Atem würde nicht nach starkem Alkohol stinken. Er würde an seiner Werkbank erwachen, mit seinem Handwerkszeug in den Händen. Neue Figurinen würden ihn mit wachen, glänzenden Augen beobachten. Eine neue Welt entstand in ihm, und für den göttlichen Odem hatte er Mila zu danken: dem Lebenshauch.

Freude und Erleichterung durchflossen ihn in langem, unkontrollierbarem Erschauern. Wie jener andere Schauer am Ende von Milas letztem Besuch, als das Kissen von seinem Schoß genommen wurde. Aber noch ein anderes, wachsendes Problem dämpfte die Inspiration in ihm. Er hatte begonnen, Mila gegenüber gewisse Ängste zu entwickeln, eine starke, gefährliche Selbstsucht in ihr zu vermuten, eine allumfassende Ambition, die bewirkte, daß sie andere, ihn selbst eingeschlossen, lediglich als Stufen ihrer eigenen Leiter zu den Sternen zu sehen schien. Brauchen diese brillanten Jungen sie denn wirklich? fragte Solanka sich allmählich. (Und war dicht an der daraus folgenden Frage: Brauche ich sie?) Er hatte eine eventuelle neue Inkarnation seiner lebenden Puppe im Kopf gehabt - bei der Mila Circe war, und ihr zu Füßen hockten ihre grunzenden Schweine nun aber schob er diese finstere Vision beiseite; genauso wie ihr sogar noch grimmigeres Pendant, die Vision von Mila als Furie, als Tisiphone, Alecto oder Megaera, in einem Kostüm aus üppigem Fleisch auf die Erde herabgestiegen. Mila war aus gutem Grunde hier. Sie hatte den Impuls geliefert, der ihn an die Arbeit zurückschickte. Auf den Deckel eines ledergebundenen Notizbuchs schrieb er die Worte Die erstaunlichen, schnurlosen Marionetten-Könige des Professors Kronos. Dann setzte er hinzu: Oder die Revolte der Lebenden Puppen. Und dann Oder das Leben der Marionetten-Cäsaren. Schließlich strich er alles bis auf die Wörter Marionetten-Könige aus, schlug das Notizbuch auf und begann hastig die Vorgeschichte des wahnsinnigen Genies aufzuschreiben, das sein Antiheld sein sollte.

Akasz Kronos, der große, zynische Kybernetiker des Rijk, begann er, erschuf die Marionettenkönige als Reaktion auf die letzte Krise der Rijk-Zivilisation; doch wegen eines schweren und unheilbaren charakterlichen Makels, der ihn unfähig machte, das Wohl der Allgemeinheit im Auge zu behalten, benutzte er sie, um ausschließlich sein eigenes Überleben und sein eigenes Vermögen zu gewährleisten.

 

Am folgenden Nachmittag rief Jack Rhinehart an und klang beunruhigt. »Was is’ los, Malik. Lebst du immer noch wie ’n Guru in der Eishöhle? Oder ein Rausgeschmissener bei Big Brother Is Not Watching You? Oder erreichen dich doch noch von Zeit zu Zeit Nachrichten von der Außenwelt? - Hast du den von dem Buddhistenmönch in der Bar gehört? Der geht zu dem Tom-Cruise-Klon mit dem Cocktail-Shaker und sagt: Mach mir einen mit allem. Hör zu: Kennst du ’ne Braut mit Namen Lear? Behauptet, deine Ehefrau gewesen zu sein. Ich finde, kein Mensch hat so viel Pech verdient, mit diesem Schätzchen verheiratet gewesen zu sein. Sieht aus, als wär’ sie hundertundzehn und ist so bissig wie ’ne Schlange. Ach ja, und was das Thema Ehefrau betrifft. Ich bin geschieden. Ging schließlich ganz einfach. Ich hab ihr alles gegeben.«

Und alles war, wie er erläuterte, tatsächlich alles: das Cottage in The Springs, der berühmte Weinschuppen sowie mehrere hunderttausend Dollar. »Und das findest du richtig?« fragte Solanka verwundert. »Ja, ja«, ratterte Rhinehart. »Du hättest Bronnie sehen sollen. Kinnlade bis zum Boden abgesackt. Hat so schnell zugegriffen, daß ich dachte, sie hebt sich ’n Bruch. Und ob du’s glaubst oder nicht, sie ist weg! Auf und davon. Neela, Mann, ist jetzt alles, was zählt. Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll, aber sie hat alles in mir beruhigt. Sie hat alles in Ordnung gebracht.« Seine Stimme wurde kindlich-verschwörerisch. »Hast du schon mal gesehen, daß jemand wirklich den ganzen Verkehr aufgehalten hat? Ich meine, hundertprozentig die Bewegung aller Automobile angehalten hat, nur indem er einfach da ist? Das kann sie. Sie steigt aus dem Taxi, und fünf Wagen sowie zwei Feuerwehrautos bleiben mit kreischenden Bremsen stehen. Auch gegen Laternenpfähle rennen sie. Ich hätte niemals geglaubt, daß so was vorkommt, außer in den Slapstick-Komödien von Mack Sennett. Jetzt kann ich’s jeden Tag bei normalen Männern beobachten. Manchmal auch in Restaurants«, sagte Rhinehart vertraulich und gluckste vergnügt. »Ich bitte sie, zur Damentoilette zu gehen und wieder zurückzukommen, nur damit ich Zusehen kann, wie die Männer an den anderen Tischen angegiftet werden. Kannst du dir vorstellen, Malik, mein bedauernswerter, zölibatärer Freund, wie das mit ihr war? Ich meine, jeden Abend

»Du hast schon immer eine häßliche Ausdrucksweise gehabt«, sagte Solanka, der sich wand. Er wechselte das Thema. »Was ist mit Sara? Wieso ist sie von den Toten auferstanden? Auf welchem Friedhof hast du sie gefunden?« »Ach, wie üblich«, erwiderte Rhinehart pikiert. »Southampton.« Seine Ex-Frau, erfuhr Solanka, hatte mit fünfzig Jahren einen der reichsten Männer von Amerika geheiratet, den Viehfutter-Tycoon Lester Schofield III., inzwischen zweiundneunzig, und vor kurzem, an ihrem siebenundfünfzigsten Geburtstag, wegen Schofields Ehebruch mit Ondine, einem brasilianischen Ex-Model von dreiundzwanzig, die Scheidung eingereicht. »Schofield hat seine Milliarde gemacht, weil er erkannt hat, daß das, was von den Trauben übrig ist, nachdem Traubensaft gemacht werde, ein großartiges Dinner für die Kühe ergeben würde«, sagte Rhinehart und ging zu seiner übertriebensten Onkel-Tom-Sprache über. »Und jetzt hat deine Alte die gleiche Idee gehabt. Sie hat ihn unter die Traubenpresse gelegt, stell’ ich mir vor. Und war letztlich die bestgefütterte Kuh selbst.« Überall an der Ostküste stiegen die Jungen offenbar auf den Schoß der Alten, offerierten den Sterbenden den Schierlingsbecher, der sie selbst waren, und richteten weit und breit Verheerungen an. An diesen jungen Klippen scheiterten tagtäglich Ehen und Vermögen. »Miss Sara hat ein Interview gegeben«, erzählte Rhinehart Solanka allzu munter, »in dem sie ihre Absicht ankündigte, ihren Ehemann in drei gleiche Teile zu zerlegen, jedes auf einer seiner großen Besitzungen zu begraben und dann bei jedem ein Drittel des Jahres zu verbringen, um ihren Dank für seine Liebe zu zeigen. Dein Glück, daß du die Alte losgeworden bist, solange du arm warst, mein Junge. Die Braut von Wildenstein? Miss Patricia Duff? Nicht annähernd so gut sind die, bei der Scheidungs-Olympiade. Die Goldmedaille gebührt dieser Dame, ganz zweifellos. Die hat ihren Shakespeare gelesen, Professor.« Es gab Gerüchte, nach denen das Ganze ein zynisches Komplott gewesen sei - daß Sara Lear Schofield, kurz gesagt, die Brasilianerin dazu angestiftet hatte aber Beweise für eine derartige Verschwörung wurden nie gefunden.

Was war los mit Rhinehart? Wenn er zutiefst zufrieden war, wie er behauptete, sowohl mit seiner eigenen Scheidung als auch mit Vaffaire Neela, warum wechselte er in einem so halsbrecherischen Tempo zwischen sexueller Plumpheit - die im Grunde gar nicht sein Stil war - und diesen dämlichen Sara-Lear-Informationen hin und her? »Jack«, fragte Solanka seinen Freund, »geht es dir wirklich gut? Wenn nämlich ...« »Mir geht’s gut«, fiel Jack ihm mit seiner angestrengtesten, brüchigen Stimme ins Wort. »He, Malik? Hier spricht dein Bruder Jack, mein Freund. Geboren und aufgewachsen in einem Dornbusch. Bleib cool.«

Eine Stunde später rief Neela Mahendra an. »Erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns bei diesem Fußballspiel kennengelernt. Wo Holland die Serben geschlagen hat.« »Beim Fußball heißt es immer noch Jugoslawien«, erklärte Solanka. »Wegen Montenegro. Aber ja, natürlich erinnere ich mich an Sie. Sie kann man nicht so leicht vergessen.« Sie reagierte nicht auf sein Kompliment; derartige Schmeicheleien waren für sie das Minimum: der allergeringste Tribut an sie. »Können wir uns treffen? Es geht um Jack. Ich muß unbedingt mit jemandem sprechen. Es ist wichtig.« Sie meinte, sofort, war es gewöhnt, daß die Männer alles stehen - und liegenließen, wenn sie winkte. »Ich bin ganz in Ihrer Nähe im Park«, sagte sie. »Können wir uns in, sagen wir, einer halben Stunde vor dem Metropolitan Museum treffen?« Solanka, ohnehin um das Wohlergehen seines Freundes besorgt, nach diesem Anruf noch besorgter und - jawohl, na schön! - unfähig, dem Ruf der hinreißenden Neela zu widerstehen, erhob sich, obwohl dieser Ruf ausgerechnet in den Stunden gekommen war, die für ihn die kostbarsten des Tages geworden waren: Milas Zeit. Er zog einen leichten Mantel an - es war trocken, aber bewölkt und für die Jahreszeit zu kühl - und öffnete die Wohnungstür. Draußen stand Mila mit seinem Reserveschlüssel in der Hand. »Oh«, sagte sie, als sie den Mantel sah. »Na ja, okay.« In diesem ersten Augenblick, als sie völlig überrascht war, bevor sie Zeit hatte, sich zusammenzunehmen, sah er ihr Gesicht sozusagen nackt. Was er da entdeckte, war zweifellos enttäuschter Hunger. Der füchsische Hunger eines Tieres, dem die - er versuchte, nicht an das Wort zu denken, aber es erzwang sich den Weg zu ihm - Beute verweigert wird.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er lahm, aber sie hatte bereits die Beherrschung zurückgewonnen und zuckte die Achseln. »Kein Problem.« Gemeinsam gingen sie zur Haustür hinaus, wo er sich rasch von ihr entfernte und zur Columbus Avenue hinüberging, ohne sich umzusehen, weil er wußte, daß sie mit Eddie auf der Treppe des Nachbarhauses sitzen und zornig ihre durstige Zunge in dessen verblüffte, hocherfreute Kehle stecken würde. Überall prangten Poster für The Cell, den neuen Jennifer-Lopez-Film. Darin wurde Lopez miniaturisiert und ins Gehirn eines Serienmörders injiziert. Es klang wie ein Remake von Phantastische Reise mit Raquel Welch, aber na und? Niemand erinnerte sich an das Original. Alles ist eine Kopie, ein Echo der Vergangenheit, dachte Professor Solanka. Ein Song für Jennifer: We’re living in a retro world and I am a retrograde girl.